Die Dauer – die reale Zeit – wird für uns vom Raum verdeckt; mit ihr
entgeht uns die einzigartige Realität unseres Bewusstseins: Dies ist die
zentrale Idee von Bergsons »Essai«, nicht nur eines der Hauptwerke
Bergsons und eines der Bücher, die das 20. Jhd. in der Philosophie
eröffneten und prägten, sondern zugleich ein aktueller Klassiker.
In seiner 1889 veröffentlichten Dissertationsschrift Essai sur les
données immédiates de la conscience (deutsche Erstausgabe 1911)
unternimmt Bergson den Versuch, die Problematik von Freiheit und
Determinismus auf eine grundlegend neue Basis zu stellen. Dabei legt er
bereits in dieser frühen Schrift den Grundstein für sein in den
folgenden Werken ausgebautes komplexes Begriffsgeflecht.
Die Grundthese lautet: Das Freiheitsproblem ergibt sich aus einem
Missverständnis des Zeitbegriffs, aus der Vermischung des Zeitlichen mit
dem Räumlichen. Dies belegt Bergson in drei Schritten, die mit einer
Analyse der Bewusstseinszustände im ersten Kapitel beginnen. Ausgehend
von der Unterscheidung zwischen Reiz und Empfindung und in
Auseinandersetzung mit den physikalischen und psychologischen Theorien
seiner Zeit zeigt Bergson, dass zwar der Reiz, nicht aber die Empfindung
einer quantitativen Messung unterworfen werden kann. Das dem
Bewusstsein unmittelbar Gegebene ist also nicht quantitativ abstufbar,
sondern divergiert rein qualitativ. Damit eröffnet sich ein neuer Zugang
zur psycho-physischen Einheit des Ich, zugleich aber auch ein ganz
neuer Begriff der Zeit.
Das zweite Kapitel begründet die für Bergson grundlegende
Differenzierung zwischen der messbaren Zeit und der Dauer (durée): Die
messbare Zeit ist nach ihm ein »Bastardbegriff«, ein Hybridgebilde aus
Dauer und Raum. Wenn Zeit analog dem Raum gedacht wird, gleichen die
Bewusstseinszustände materiellen Gegenständen und lassen sich in ein
kausal-deterministisches Schema pressen. Der naturwissenschaftlichen
Zeitauffassung setzt Bergson die Dauer des Bewusstseins entgegen, die
(so die Argumentation im dritten Kapitel) erst die Freiheit als Grund
unserer psychischen Akte erschließt. Der Band bringt die für das
Verständnis von Bergsons Philosophie unverzichtbare Abhandlung in der
ersten deutschen Neuübersetzung seit über 100 Jahren.
Henri Bergson wird 1859 in Paris geboren. Nach seiner Ausbildung an der
Ècole Normale Supérieure ist er zunächst 16 Jahre als Gymnasiallehrer
beschäftigt, kann sich aber gleichzeitig seinen wissenschaftlichen
Interessen widmen. Als Vertreter der Lebensphilosophie setzt Bergson
den positivistischen und szientistischen Strömungen seiner Zeit eine
Neubegründung der Metaphysik entgegen. Die Lebenskraft (élan vital) ist
seiner Anschauung nach das movens der Entwicklung des Lebendigen,
weswegen der Raum zwar analytisch erfaßt werden könne, die Zeit jedoch
als ein inhomogener Zustand ein qualitatives Phänomen sei. In Materie
und Geist (1896) tritt dann die Problematik der freien Handlung im
Zusammenwirken von Körper und Geist in den Vordergrund. 1889 legt
Bergson seine Dissertation Abhandlung über die unmittelbaren
Bewußtseinstatsachen ( Zeit und Freiheit) an der Sorbonne vor, erhält
schließlich 1900 einen Ruf an das Collège de France und wird 1914 in die
Académie Francaise aufgenommen. Die schöpferische Entwicklung
erscheint 1907 und erreicht innerhalb von 10 Jahren 21 Auflagen. Hier
entwickelt Bergson eine Ontolgie, die um den Zentralbegriff des „élan
vital“ aufgebaut ist und die er den Evolutionstheorien Darwins
entgegensetzt. Auf Grund der herausragenden literarischen Qualität
seiner Schriften erhält er 1927 den Nobelpreis für Literatur. Bergson stirbt 1941 an den Folgen einer Lungenentzündung.
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