Herausgegeben von Franz Schultheis und Stephan Egger
Aus dem Französischen von Bernd Schwibs, Achim Russer, Udo Rennert, Michael Tillmann und Hella Beister
In seiner bahnbrechenden Studie Die feinen Unterschiede
formuliert Pierre Bourdieu bekanntlich die These von der
klassenkonstituierenden Funktion von Kultur. Entwickelt hatte er sie in
zahlreichen empirischen und praxeologischen Einzelstudien, die in den Schriften zur Kultursoziologie
versammelt sind. Die in diesen Vorarbeiten freigelegte »Anatomie des
Geschmacks« macht die subtilen Mechanismen symbolischer Herrschaft
sichtbar, die Gesellschaften durch kulturelle Abgrenzungen
strukturieren. Ebenso materialreich wie konzeptionell bestechend werden
Praktiken der Kunst, der Mode und des Sports analysiert und wird die
bürgerliche Frage des Geschmacks als Herrschaftsinstrument entlarvt. Ein
unverzichtbarer Beitrag zur Kultursoziologie.
Pierre Bourdieu, am 1.August 1930 in Denguin (Pyrénées Atlantiques) geboren, besuchte dort das Lycée de Pau und wechselte 1948 an das berühmte Lycée Louis-le-Grand nach Paris. Nachdem er die Eliteschule der École Normale Supérieure durchlaufen hatte, folgte eine außergewöhnliche akademische Karriere. Von 1958 bis 1960 war er Assistent an der Faculté des lettres in Algier, wechselte dann nach Paris und Lille und wurde 1964 Professor an der École Pratique des Hautes Études en Sciences Sociales. Im selben Jahr begann er, die Reihe Le sens commun beim Verlag Éditions de Minuit herauszugeben und erhielt einen Lehrauftrag an der Ècole Normale Supérieure.
Es folgten Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte in Princeton und
am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Seit 1975 gibt er die
Forschungsreihe Actes de la recherche en sciences sociales heraus. 1982 folgte schließlich die Berufung an das Collège de France. 1993 erhielt er die höchste akademische Auszeichnung, die in Frankreich vergeben wird, die Médaille d'or des Centre National de Recherche Scientifique. 1997 wurde ihm der Ernst-Bloch-Preis der Stadt Ludwigshafen verliehen.
In seinen ersten ethnologischen Arbeiten untersuchte Bourdieu die
Gesellschaft der Kabylen in Algerien. Die in der empirischen
ethnologischen Forschung gemachten Erfahrungen bildeten die Grundlage
für seine 1972 vorgelegte Esquisse d'une théorie de la pratique (dt. Entwurf einer Theorie der Praxis, 1979). In seinem wohl bekanntesten Buch La distinction (1979, dt. Die feinen Unterschiede,
1982) analysiert Bourdieu wie Gewohnheiten, Freizeitbeschäftigungen,
und Schönheitsideale dazu benutzt werden, das Klassenbewußtsein
auszudrücken und zu reproduzieren. An zahlreichen Beispielen zeigt
Bourdieu, wie sich Gruppen auf subtile Weise durch die feinen Unterschiede in Konsum und Gestus von der jeweils niedrigeren Klasse abgrenzen. Mit Le sens pratique (dt. Sozialer Sinn. Kritik der theoretischenVernunft,
1987) folgte 1980 eine ausführliche Reflexion über die konkreten
Bedingungen der Wissenschaft, in der Bourdieu das Verhältnis von Theorie
und Praxis neu zu denken versucht. Ziel dieser Analysen ist es, die
"Objektivierung zu objektivieren" und einen Fortschritt der Erkenntnis
in der Sozialwissenschaft dadurch zu ermöglichen, daß sie ihre
praktischen Bedingungen kritisch hinterfragt.
Seit dem Beginn der 90er Jahre engagiert sich Bourdieu für eine
demokratische Kontrolle ökonomischer Prozesse. 1993 rief er zur Gründung
einer "Internationalen der Intellektuellen" auf, deren Ziel darin
besteht, das Prestige und die Kompetenz im Kampf gegen Globalisierung
und die Macht der Finanzmärkte in die Waagschale zu werfen. Die im
selben Jahr gegründete Zeitschrift Liber soll dazu ein
unabhängiges Forum bieten. Seine politischen Aktivitäten zielen darauf
ab, eine Versammlung der "Sozialstände in Europa" einzuberufen, die den
europäischen Einigungsprozeß kontrollieren und begleiten soll.
Pierre Bourdieu stirbt am 23. Januar 2002 in Paris.
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