Die Niederlage der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg und die Ausrufung der Sozialistischen Sowjetrepublik in Russland im Herbst 1917 bildeten die Rahmenbedingungen für eine revolutionäre Aufbruchsstimmung. Vielerorts entstanden Rätebewegungen, denen es gelang, die Herrschaft zu übernehmen und – meist nur kurzlebige – Regierungen zu installieren. Politische und ökonomische Zwänge, aber auch konservativ-reaktionäre Gegenrevolutionen mit starker (para-)militärischer Unterstützung konnten die Rätestrukturen bereits in der Aufbauphase gewaltsam beseitigen und ihre Konsolidierung verhindern.
Die ungarische Räterepublik bestand zwischen dem 21. März und dem 1. August 1919. Verantwortlich für ihre Ausgestaltung war vor allem der aus Moskau zurückkehrende Béla Kun. Obwohl offiziell nur „Volksbeauftragter für Außenbeziehungen“, entwickelte er die entscheidenden Planungen für die Verstaatlichung von Banken, Betrieben und Gebäuden sowie für eine umfassende Bodenreform. Die Erwartungen waren überzogen; die Umsetzung gelang nicht. Daran scheiterte die ungarische „Diktatur des Proletariats“ ebenso wie am weißen Gegenterror, am Widerstand der Siegermächte des Weltkriegs und letztlich an der Unfähigkeit, das selbst definierte Staatsgebiet militärisch zu schützen.
Bis heute ist die Geschichte der ungarischen Räterepublik im deutschsprachigen Raum kaum aufgearbeitet. Es überwiegt ein negativ konnotierter Diskurs, der auf Chaos und Willkür fokussiert und die Nachfolge von „Reichsverweser“ Admiral Miklós Horthy als logische Konsequenz sieht. Dass die ungarische Räterepublik die erste friedliche Machtübernahme einer kommunistischen Regierung in Europa darstellte, wird ebenso ausgeblendet wie die Frage nach den Zielen und Idealen oder jene nach den Beziehungen zu anderen Staaten.
Der vorliegende Band stellt eine übersichtliche Einführung in die Thematik dar. ExpertInnen aus Ungarn, Österreich, der Schweiz, Deutschland und den USA arbeiten das Wissen über die ungarische Räterepublik auf. Dabei werden auch Detailaspekte von der Veränderung des Budapester Stadtbildes während der Räteherrschaft bis zur Beurteilung des Regimes durch Benito Mussolini näher beleuchtet.
Christian Koller, geboren 1971, studierte Geschichte,
Wirtschafts- und Politikwissenschaften. Er habilitierte sich zur
Begriffsgeschichte von Fremdherrschaft. Seit 2014 ist er Direktor des
Schweizerischen Sozialarchivs.
Matthias Marschik, geboren 1957, studierte Psychologie und
Philosophie in Wien. In seiner Habilitation beschäftigte er sich mit dem
Beitrag des Sports zur Nationswerdung Österreichs nach 1945. Zahlreiche
Buchpublikationen zu Alltagskulturen insbesondere des Sports und des
Automobilismus.
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