Vorwort zur Neuauflage
Am 1. April 1905 erhält Haeckel aus Berlin, von Jules Sachs von der „Concert-Direction“, die überraschende Einladung, demnächst im Saale der dortigen Sing-Akademie einen populärwissenschaftlichen Vortrag zu halten. Er selbst möchte über die aktuellen Auseinandersetzungen um die Entwicklungslehre sprechen und insbesondere auf den Kirchenglauben und die Ansichten des Jesuitenpaters und Entomologen Erich Wasmann, der sowohl die phylogenetische Entwicklungslehre als gleichermaßen auch die Schöpfung des Menschen für richtig ansieht, eingehen. Wilhelm Bölsche und viele andere Freunde und Anhänger der Darwinschen Entwicklungslehre und der Haeckelschen naturwissenschaftlichen und monistischen Auffassungen raten ihm ausdrücklich, in Berlin in den Kampf um das Entwicklungsdenken einzugreifen. Haeckels „Erscheinen in Berlin (wird) im Moment von der größten Bedeutung sein“, wie Bölsche an Haeckel am 4. April 1905 schreibt. Und weiter: „Die Zahl Ihrer Anhänger hier ist kolossal, das öffentliche Interesse das denkbar stärkste. Nirgendwo in Deutschland fühlt man wohl im Augenblick so stark, wie hier, daß wir in eine große politisch-religiöse Krisis hineinsteuern …“ Auch der Giordano-Bruno-Bund und die Freie Deutsche Hochschule wollen Haeckels Aufenthalt in Berlin fördern und für weitere Aktivitäten nutzen.
Ursprünglich sind ein oder zwei Vorträge Haeckels vorgesehen und verabredet. Es stellt sich dann jedoch heraus, dass es eines dritten bedarf, seine Auffassungen in den aktuellen Kulturkampf um das Entwicklungsdenken und um den Monismus darzustellen und vorzutragen. Viele hunderte Zuhörer kommen zu den Vorträgen, der Saal ist ausverkauft, die Vortragsveranstaltungen sind große Erfolge. Gerade die freigeistigen und monistischen Weltanschauungen entwickeln sich in jener Zeit intensiv und verbreiten sich. Die drei Vorträge werden sodann innerhalb weniger Wochen publiziert, von denen Haeckel selbst sagt: „Die maaßlose Wut der Klerikalen und dualistischen Gegner über diese harmlose (– nichts Neue bietende! –) Schrift scheint zu beweisen, daß die Hiebe gesessen haben.“ Haeckels Vorträge und Darstellungen in der Publikation von 1905 stehen auf dem naturwissenschaftlichen Niveau seiner Zeit.
Diese Vorträge entstehen vor der am 11. Januar 1906 erfolgenden Gründung des Deutschen Monistenbundes. Aber die Idee, ihn zu gründen, entwickelt Haeckel in der 2. Jahreshälfte 1905 immer konkreter. Er gewinnt freigeistige Persönlichkeiten, die ihn bilden und leiten mögen. Ernst Haeckel gilt in diesen Jahren als berühmter Zoologe und Darwinist in Deutschland. Mittels seiner Bemühungen um eine monistische Weltanschauung greift er auch in philosophische und kulturelle Auseinandersetzungen aktiv ein.
Im Mai 1905 schreibt Haeckel das Vorwort für die hier wieder vorgelegten drei Berliner Vorträge. Die Vorträge tragen folgende Titel:
Erster Berliner Vortrag, 14. April 1905: Der Kampf um die Schöpfung. Abstammungslehre und Kirchenglaube
Zweiter Berliner Vortrag, 16. April 1905: Der Kampf um den Stammbaum. Affenverwandtschaft und Wirbeltierstamm
Dritter Berliner Vortrag, 19. April 1905: Der Kampf um die Seele. Unsterblichkeit und Gottesbegriff
Sie werden ergänzt durch drei bemerkenswerte Tafeln als Illustrationen:
Tafel I: Stammbaum der Wirbeltiere (Vertebrata).
Tafel II: Skelette von fünf Menschenaffen (Anthropomorpha).
Tafel III: Embryonen von drei Säugetieren, auf drei entsprechenden Stufen der Entwicklung.
Im Anhang finden sich Tabellen und Anmerkungen. Die Naturhistorischen Tabellen beinhalten:
1. Zeitalter und Perioden der Erdgeschichte.
2A. Progonotaxis des Menschen, Erste Hälfte: Ältere Ahnen-Reihe, ohne fossile Urkunden, vor der Silur-Zeit.
2B. Progonotaxis des Menschen, Zweite Hälfte: Jüngere Ahnen-Reihe, ohne fossile Urkunden, vor der Silur beginnend.
3. System der Herrentiere (Primates).
(Vgl. Haeckels Natürliche Schöpfungsgeschichte, X. Aufl. 1902, Vortrag 27; Anthropogenie, V. Aufl. 1903, Vortrag 23.)
4. Stammbaum der Herrentiere (Primates).
Es folgt eine Erläuterung zur historischen Tabelle: Chronometrische Reduktion der biogenetischen Zeiträume.
Haeckels Nachwort „Entwicklungs-Gedanke und Jesuitismus“ vom Mai 1905 ist insofern von besonderem Interesse, als er sich ausdrücklich mit kirchlichen Gegenpositionen zum Entwicklungsdenken und zum Monismus auseinandersetzt. Er unterstreicht, dass die Publikation der Vorträge den Charakter einer Streit- und Kampfschrift hat.
Die nun vorliegende Publikation ist eine originalgetreue und historisch-kritische Wiedergabe des im Verlag von Georg Reimer, Berlin 1905, herausgegebenen Buches, der Erstausgabe mit 112 Seiten. Es wurde seit 1905 nicht wieder veröffentlicht.
Dr. Volker Mueller
Falkensee