Zur Positionierung des «Menschheitskämpfer»
Otto Bauer (1897–1986), Gründer und Vorsitzender des Bundes religiöser Sozialisten Österreichs, geboren in Wien als Sohn einer Näherin und eines Metallschleifers, hatte den Zugang zur Arbeiterbewegung über eine kaufmännische Lehre nach der Volks- und Bürgerschule gefunden: seit 1912 engagierte er sich im Bund der christlichen Arbeiterjugend um Anton Orel (Wien Ottakring) und in Karl von Vogelsangs «Vogelsang-Bund». Am Industriearbeiterstreik des Jänner 1918, in der Spätphase des Ersten Weltkriegs und der Monarchie, war er organisatorisch beteiligt; kraft seiner inzwischen aufgenommenen Tätigkeit als Metallarbeiter übte er zu Beginn der Ersten Republik ein Mandat im Arbeiter-, Angestellten- und Soldatenrat aus (Ende 1918 bis 1919). Nebst Lektüren Marx’, aber auch gewisser Rezipienten wie des katholischen Marxinterpreten Wilhelm Hohoff, pflegte Bauer Kontakte zu religiösen Sozialisten aus Deutschland und der Schweiz, namentlich (u.a.) dem Rheinländer Heinrich Mertens und dem Wiener Wilhelm Frank mit deren Zeitschrift «Ruf zur Wende»; noch nachhaltiger dann zu dem Schweizer Leonhard Ragaz. Den Anschluss an die Sozialdemokratie vollzog Bauer mit dem Parteieintritt 1922 und schließlich der Gründung des «Bundes der religiösen Sozialisten Österreichs» (BRS) als Teilorganisation der österreichischen sozialdemokratischen Partei (SDAP) im Oktober 1926. Mitglieder oder MitarbeiterInnen des Bundes waren und wurden neben Bauer unter anderen Wilhelm Frank, Raimund Egger, Hilde Egger-Retzbach, Alma Retzbach, Hans Pichler, Oskar Ewald, Eugen Benedikt, Robert Friedmann, Franz Georg, Richard Redler, die sozialistischen Politiker Laurenz Genner, Josef Scherleitner, Wilhelm Ellenbogen. Die damit anhebende Phase bis zum Verbot der Partei am 12. und zur Auflösung des Bundes am 13. Februar 1934 wird in den Texten des vorliegenden Bandes detailliert sichtbar; diese bilden somit den ersten Teil von Bauers Schriften zum politisch-religiössozialistischen Engagement und werden im zweiten Band entsprechend ergänzt.
Publizistisch trat der Bund mit der Zeitschrift «Menschheitskämpfer» hervor, die Bauer herausgab und redigierte. Außer ihm und dem Mitherausgeber Wilhelm Frank, die die Hauptmasse der Texte verfassten, steuerten viele der genannten Mitarbeiter, aber auch internationale AutorInnen aus dem Umkreis des religiösen Sozialismus Artikel bei: so Leonhard Ragaz, Paul Tillich, Aurel Kolnai, Eduard Heimann, Ernst Michel, Henriette Roland-Holst, Willi Hammelrath oder Josef Wittig. Abgedruckt und/oder diskutiert wurden außerdem Beiträge und Kontroverstexte: zum einen kirchlicher (hauptsächlich katholischer) Provenienz u.a. von August Zechmeister, Michael Pfliegler, Georg Bichlmaier, August Schaurhofer und Alois Wiesinger auf der einen Seite, Oswald Nell-Breuning oder Johannes Messner auf der distanzierten anderen Seite. Des Weiteren waren auch Beiträge von sozialdemokratischer Seite (z.B. Dr. Otto Bauers) immer wieder präsent und Gegenstand der Debatte.
Der MK erschien in einer Auflage von anfangs 1000 bis zu vermuteten 5000 in Spitzenzeiten; wobei den vierzig Abonnenten aus dem katholischen Klerus schon Ende 1927 der weitere Bezug kirchlicherseits untersagt wurde. Formal wurden in jedem Heft die thematischen Artikel ergänzt durch redaktionelle Rubriken, die teils fix, teils unregelmäßig erschienen: Veranstaltungsankündigungen und -berichte («Rundschau» samt Leserbriefen), Rubriken zur Chronik («Aus der Bewegung»), zu aktuellen Debatten («Für und Wider»), kommentierter Presseschau («Im Streiflicht»), Rezensionen («Von Büchern und Schriften») und dgl. mehr, überdies zu besonderen programmatischen Schwerpunkten («Katholische sozialistische Aktion», 1929 bis 32, erst als Beilage, dann als einfache Rubrik; sowie «Neue Gemeinschaft» von 1930 bis 32).
Thematisch ging es in der Zeitschrift zum einen um das prinzipielle Verhältnis von Religion und Sozialismus (hier neben der dominanten Kirchenproblematik etwa auch die «Weltanschauungs»-Debatte mit den «Freidenkern» innerhalb der Partei), zum anderen um aktuelle politische Aspekte, Ereignisse, Strategien, Kämpfe. Zusehends rückte dabei der Faschismus in den Fokus, zuerst vor allem (aber nicht nur) in Gestalt des Austro- oder «Heimwehrfaschismus», ab 1930 der Nationalsozialismus, sodass Bauer im April 1932 die Überwindung des Nationalsozialismus als die spezifische, vordringlichste politische Aufgabe der religiösen Sozialisten ausrief. In den international wie national aufreibenden Antagonismen zwischen Sozialismus, Kommunismus, Kapitalismus und Faschismus war der religiössozialistische Verbindungsversuch zwischen Religion und Politik, zwischen sozialistischer Partei und katholischer Kirche hart auf die Probe gestellt worden und kam, maßgeblich erschwert durch die abschlägige Enzyklika «Quadragesimo Anno» Pius’ XI. von 1931, sukzessive zum Erliegen. Die programmatische Konsequenz aus letzterer zog Bauer im Artikel «Neue Wege» vom März 1932, der am deutlichsten den Kurswechsel für die restliche Arbeit des BRS markiert; Verbindung wie Auseinandersetzung mit der Amtskirche wurden von da an hintangestellt.
Parallel dazu intensivierte Bauer die spirituelle Arbeit im kleinen Rahmen der «Neuen Gemeinschaft» oder «Christophorus-Gemeinde», die auch um ein entsprechendes Bibelverständnis bemüht war. Er war zwar seit dem Februar 1934 weiter aktiv für die «illegale» Nachfolgepartei der SDAP, die sich 1934 als «Revolutionäre Sozialisten» im Untergrund konstituierte, in Zusammenarbeit mit dem Vorsitzenden Josef Buttinger: dabei oblagen ihm zunächst nachrichtendienstliche Agenden, bis er 1938 für die Auslandsvertretung der österreichischen Sozialisten (AVÖS) das Archiv und die Verwaltung der Hilfsgelder übernahm. So setzte er die Parteitätigkeit im Exil fort: zuerst in Frankreich (Flucht samt Familie über Italien und die Schweiz im April 1938), ab Herbst 1940 in den USA. Doch erfolgte in den USA im Dezember 1941 zusammen mit anderen führenden Protagonisten der definitive Austritt aus der Parteiorganisation und Bauers «Abschied vom Sozialismus». Stattdessen widmete er sich in den folgenden Jahrzehnten in New York verstärkt, neben seiner Brotarbeit hauptsächlich für die Buttinger Library in Manhattan, bis gegen Lebensende religiöser Lebensweise und Gedankenarbeit zu den Themen Apokalypse und Geschichtseschatologie, gleichwohl mit schonungslos kritischem Blick auf aktuelle wie globale gesellschaftliche und menschheitliche Entwicklungen, die er als das Problem der «Menschwerdung des Menschen» fasste, womit im Übrigen eine gewisse Kontinuität zur scharf distanzierten sozialistisch-politischen Phase dennoch gegeben war. Hierzu erarbeitete er, neben einem umfangreichen Briefwechsel, oft im Austausch mit befreundeten Denkern wie Robert Friedmann, einen reichhaltigen, bislang unveröffentlichten schriftlichen Nachlass. Otto Bauer starb während eines seiner Österreich-Aufenthalte im August 1986 bei Prägraten in Osttirol.